Rattenfänger

Zelttheater mit Marlen Breitinger, Jan-Geerd Buss, Monika Kroymann, Martin Lüttge, Silvia Menzel, Micha Müller, Ulrike Schlue, Manfred Rühl.

Cello: Lars Studer
Kostüme: Gudrun Schretzmeier
Masken: Meike Clausen;
Training: Franz Blauensteiner;
Organisation: Angela Wagner.

Auslandsgastspiele in Österreich, Tschechien und Frankreich.
(Uraufführung: 4.5.1989)
Aufführungen der Neuinszenierung vom 11.-22. August 2004.


Im Dezember 1988 durchquerten wir gemeinsam die Sahara: Elf Menschen, geboren zwischen 1933 und 1971. Die Wüste: In unserer Vorstellung ein magischer Ort, der es uns ermöglichen würde, nach jahrelanger gemeinsamer Theater-Arbeit neue Räume für unsere Phantasien zu er-fahren.
Einer von uns kannte den Weg; in vier Bussen fuhren wir durch halb Europa, durch Sand- und Stein-Wüsten bis zu den Ufern des Niger. Die Enge unseres Zusammenlebens und die Weite des Raums: Ein Spannungsfeld, in dem der Grundgedanke für ein neues Stück entstand: Unsere Kindheiten.
In langen Nächten erzählten wir uns davon; tauchten ein in Bilder und Geschichten.

Tagsüber: Afrikanische Realität, Grenzen, Handel auf den Märkten, Besuche in Nomaden-Zelten und Hütten, das deutsche Theater weit entfernt.
In einer dieser Nächte die Idee: Der Rattenfänger oder der Auszug der Kinder aus Hameln. Ein deutsches Märchen und viele Fragen: Gab es ihn wirklich, den Rattenfänger? Oder haben die Erwachsenen ihn erfunden, um die Schande zu vertuschen, dass ihre Kinder sie verlassen haben? Oder wurden die Kinder in einem Krieg verheizt? Warum gab es Ratten in Hameln? Können Ratten schwimmen? Was sind Plagen? Was ist der Lohn, und warum wurde er nicht bezahlt? Und: Warum sind wir einmal weggegangen? Wer waren unsere Rattenfänger?

Zurück in Deutschland, in der gewohnten Umgebung zwischen Probebühne und Landwirtschaft, sammelten wir die Fragen und fingen an.

Es beginnt in den 30er Jahren. Kinder spielen in einer Schul-Aufführung das Märchen vom Rattenfänger von Hameln. Eine Lehrerin gibt den Takt an - bis die Aufführung unterbrochen wird von einer Nachricht, die eine neue Zeit verkündet, von der die Kinder nichts ahnen - sie spielen Indianer, streiten und versöhnen sich - doch ihre Spiele werden sich verändern. Wir verfolgen die Geschichten von Marion, Lea, Roland und Heiner; Situationen schwarzer Pädagogik werden durchleuchtet; in Rückblenden bis zur Jahrhundertwende.
Traumatisch, von der Ratte als allegorischer Figur begleitet, verdichtet sich die Handlung bis zum Zusammenbruch (nicht nur) der Kinder-Welten.
Wir ahnen nun, wie diese Kinder als Erwachsene weiter funktionieren werden, sehen bereits den Wieder-Aufbau der Nachkriegs-Zeit vor uns - da macht das Stück einen Schnitt, und wir befinden uns in der heutigen Realität. Vier Kinder, Agnes, Birgit, Christian und Dülda, hören das „Rattenfänger"-Märchen von der nun erwachsenen Marion. Bilder, Asssoziationen, Wünsche und Ängste werden frei, verbotene Gedanken werden laut. Was geschieht, wenn wir der Ratte ins Gesicht sehen?

Am Ende ziehen sie aus wie einst die Kinder von Hameln (romantisch ist das gewiß nicht, soviel ist zu sehen), und ratlose Väter finden sich im leeren Raum, der sich zur Wüste verwandelt.


Presse:

Erziehung im Zeichen der Ratte.
Es duftet ziemlich alternativ. Vier Schauspieler und Schauspielerinnen in nordafrikanischen Gewändern bestätigen sich rhythmisch vor Vorstellungsbeginn auf der boxringartigen Bühne. Und erfüllen dann alle Erwartungen mitnichten.

Das Stück „Rattenfänger" des Theaterhofes Priessenthal, einer seit zehn Jahren frei schaffenden Truppe aus Oberbayern, ist Volkstheater im allerbesten Sinne. Kindertheater, Jugendtheater, Erwachsenentheater in einem, politisches Theater auch mit einer fast gepressten Dichtheit von Bildern, die in jeder Hinsicht stimmen. Schauspieler und Schauspielerinnen, deren Leistung niemandem ein wohltätiges Augezudrücken abverlangt. Diese Szenen aus dem Leben deutscher Kindheit erlauben keine Minute der geistigen Abwesenheit.
Es fängt an mit einer geballten Ladung unschuldigen kindlichen Theaterspiels am Vorabend der braunen Herrschaft. Theater nicht aus Lust, sondern als Erziehungsmaßnahme einer eifrigen Lehrerin. Die drei ältesten Mitglieder der Truppe spielen den „Rattenfänger von Hameln". Ein dämliches Stück Theater, das Fräulein Sprotte sich ausgedacht hat. Die verknautschten „Kinder", Heinerle, Roland, Marion und Lea, zwischendurch mal schnell in die Hosen und Röcke der Eltern hineinschlüpfend, sind keine niedlichen Wesen von einem fernen Stern, sondern gut und böse, voller Freude und Zorn, Traurigkeit und Ungeduld.

Es wirkt nie lächerlich, wenn der etwas aus der Fasson geratene Martin Lüttge zum Beispiel den kleinen Roland mimt, der sich von seiner Mutter zum aufrechten deutschen Jungen dressieren lässt und seine Freundin Lea mit dem Judenstern auf der Brust in die Arme der Gestapo jagt. In dieser Dressuranstalt deutscher Gesinnung lernen die Kinder mehr als ihnen guttut. Die Spiele der Kinder als Spiegel der Gesellschaft.

Langsam beginnen sie zu begreifen, wohin der Zug fährt, der ihr „unschuldiges" Kinderland in eine Nacht des Schreckens eintaucht, wo Täter und Opfer schnell einmal die Rollen tauschen. Immer wieder gibt es Einschübe von Bildern der Erziehungsgewalt, die den nahrhaften Boden bereitet, aus dem der Führer seine starke und schöne Jugend zieht. Eltern, die schlagen, die quälen und Eltern, die verzweifeln und auch schlagen, weil sie nicht mehr weiterwissen. Der Vater von Marion, den Rolands Vater erschießt beim Flugblätterkleben und die Leiche aufhangt zur Abschreckung für andere Volksverräter. Marions Briefe an den Frontsoldaten - alle Kinder schreiben in der Schule solche Briefe - , der dann fällt. „Mein Soldat ist tot", und die anderen allmählich auch.
Immer mächtiger und fetter wird die Ratte, die Violoncello spielt und sich in die Bühnenwirklichkeit hineindrängt, die mitmischt im Spiel von Angst und Wahnsinn.

Im zweiten Teil, nach der Pause dann, die Flucht nach vorne, in nahezu unsere Zeit, in der aus Marion eine Bibliothekarin Müller geworden ist, eine andere Sprotte, liebe- und verständnisvoll, die vier „Problemkinder" die Sage des Rattenfängers in ihr Leben hineininterpretieren lässt. Marion hilft den Kindern, die Väter zu überwinden, die Versager, Kindsquäler und Unterdrücker. Scheisse auf die Väter und Mütter. Abhauen. Aber wo ist der Weg?
Die Ratte aber ist da. Verführerisch, Ersatz für alle Verluste. Der Auszug aus der Erziehungs- und Entziehungsanstalt des Faschismus führt ins Niemandsland der Nichtzuständigkeit.
(Tagesanzeiger Zürich 17.8.1989)